Mobilistisches Manifest


Die gesellschaftliche Mobilität ist im Umbruch, ihre Teilhaber*innen stehen vor einem Paradigmenwechsel. Vor allem die deutsche Automobilindustrie muss ihre Rolle neu definieren.

Ein Gespenst geht um in der Welt – das Gespenst einer grundsätzlich neuen Mobilität.

Gesellschaft und Industrie durchlaufen einen grundlegenden Wandel: Bewährte Konzepte funktionieren nicht mehr, neue Kräfte treten auf den Plan, und ein mächtiger Stakeholder macht seinen Anspruch auf Mitgestaltung geltend: das gesellschaftliche Interesse. Klimaziele und gesetzliche Rahmenbedingungen definieren zwingende Anforderungen an das wirtschaftliche, technologische, politische und soziale Handeln aller Akteurinnen und Akteure.

Zugleich jedoch eröffnen die neuen Produktivkräfte der Informationsökonomie die Chance auf einen grundlegenden, multimodalen Umbau der Mobilität – mit neuen Zielen und neuen Anreizen, neuen Technologien und Innovationen, interdisziplinär, softwarebasiert, wertschöpfungsorientiert, zum Nutzen aller und zum Wohle des Planeten. Diese Chance gilt es zu nutzen.

1. Voraussetzungen für eine neue gesellschaftliche Mobilität

Der nötige Paradigmenwechsel im Dienst von nachhaltiger Mobilität, Beteiligung und Lebensqualität.

Die Akzeptanz der Mobilitätswende wird nur gelingen, wenn die individuellen Mobilitätsbedarfe der Menschen – in Ballungszentren wie auf dem Land – künftig durch ein effizientes, nachhaltiges kollektives System erfüllt werden. Ein neues institutionelles Setting muss ein Netzwerk gleichberechtigter Partner bilden, die ihre Verantwortung im Rahmen eines sozial-ökologischen Konsens erkennen und wahrnehmen.

Kommunen gestalten aktiv Experimentierräume und Zukunftsmodelle

Kommunen und kommunale Versorger spielen eine elementare Rolle in der Orchestrierung des Zusammenlebens. Integrierte Mobilitätsmodelle gehören nicht nur zur kommunalen Daseinsvorsorge; sie schaffen und prägen kommunale Räume. Ihre aktive Neugestaltung muss an die Stelle der reinen Verwaltung des Bestehenden treten.

Dazu gehört der digital gestützte Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs ebenso wie eine integrierte Verkehrs- und Nutzungsplanung unter Berücksichtigung aller aktuellen Transformationsprozesse. Kommunale Experimentierräume machen Kommunen lernfähig und unterstützen bei der Entwicklung adaptiver Systeme der Mobilität, des Zusammenlebens und des Wirtschaftens.

Die datenbasierte Integration aller Akteur*innen schafft ein adaptives Mobilitätsmodell

Um Mobilität im Sinne individueller und gesellschaftlicher Erfordernisse zu gestalten, ist eine übergreifende intelligente und datenbasierte Verbindung aller relevanten Akteur*innen und Mobilitätssysteme unabdingbar. Dazu zählen unserer Ansicht nach nicht nur Automobilhersteller, Zulieferer, Nahverkehrsbetriebe und Konsument*innen, sondern auch öffentliche Institutionen, Energieanbieter, Wissenschaft, Gewerkschaften und Klimabewegung.

Der Staat definiert die Rahmenbedingungen für den ganzheitlichen und nachhaltigen Wandel

Der Politik obliegt es, die Initialzündung dafür zu geben, indem sie einen verbindlichen regulatorischen Rahmen absteckt, die öffentliche Infrastruktur bedarfsgerecht und vorausschauend entwickelt und die verfügbaren Gelder effizient einsetzt. Ein entscheidendes Gestaltungsfeld politischer Institutionen wird die Erwachsenenbildung im Sinne einer flexiblen und zukunftsdienlichen Skill-Entwicklung sein. Sowohl die bestehenden Belegschaften als auch die kommenden Generationen sind auf Modelle angewiesen, die tradierte lineare Karrierebiografien flexibler und adaptiver machen. Das kontinuierliche Fähigkeiten-Update, gestützt von Konzepten wie Bildungsteilzeit, Bildungsförderung und transparenten Weiterbildungssystemen, muss Grundelement jeder Biografie sein.

Gewerkschaften nutzen ihre Hebelwirkung im Sinne veranwortungsbewusster Transformation

Technologien, Automatisierung und Kompetenzwandel müssen als gemeinsam zu meisternde Herausforderung verstanden werden. An die Stelle von Abwehrkämpfen und Bestandssicherung tritt deshalb die Forderung und Förderung neuer Arbeits-, Entwicklungs- und Bildungsmodelle. Klassische Kompetenzen sind dabei kein Auslaufmodell, sondern die Grundlage für den nötigen Paradigmenwechsel.

Die Automobilindustrie muss sich aktiv, radikal und zukunftsgerecht verändern

Als einer der führenden deutschen Industriezweige trägt die Automobilindustrie Verantwortung für den Erhalt des gesellschaftlichen Wohlstands. Diese kann sie jedoch nur als maßgeblicher Treiber eines sozial-ökologischen Umbaus gesellschaftlicher Mobilität wahrnehmen. Die dafür notwendige Verschmelzung bewährter Technologie- und Prozesskompetenz für mechanische Systeme mit einer neuen Digital- und Softwarekompetenz wird auch Voraussetzung für ihre globale Relevanz sein.

Dies bedeutet für die etablierten Konzerne, ihre Stärken im Automobilbau mit der Hebelwirkung digitaler Plattform-Organisationen in der Informationsökonomie zu verbinden. Teil des dafür nötigen Paradigmenwechsel ist ein neues Verantwortungsbewusstsein als aktiver und kooperierender Teil eines Netzwerkes aus öffentlichen Verkehrsanbietern, Kommunen, Energieanbietern, Umweltschutzverbänden, Gewerkschaften und Innovatoren der intermodalen Mobilität.

Für ein qualitativ hochwertiges, intermodales Angebot für die ganze Gesellschaft müssen im Austausch der Teilhaber*innen auf allen gesellschaftlichen Ebenen konkrete Ziele definiert und gemeinsame Experimente ermöglicht werden: vom Aufsichtsrat über den Betriebsrat, von der Gewerkschaft bis zum Arbeitgeberverband; von der Umweltinitiative über das Kommunalparlament, die Hochschulen und den Bundestag; vom Startup und den öffentlichen Nahverkehrsverbünden bis zum Energiekonzern.

2. Die Notwendigkeit eines radikalen Paradigmenwechsels

Wir erleben die radikale und übergreifende Veränderung der Bezugssysteme für Industrie und Gesellschaft. Die notwendige Veränderung gesellschaftlicher Mobilität und der Rolle der Automobilindustrie hängt eng mit vier zentralen Herausforderungen zusammen.

Dazu gehören…

…der Schritt ins postfossile Zeitalter als wesentlicher Beitrag zu Ressourcenschonung, Nachhaltigkeit und der Vermeidung von Umweltschäden,

…die Digitalisierung der Wertschöpfung und der damit verbundene Umbau von Kompetenz und Organisationsstrukturen, Ökosystemen und Kulturen,

…die radikale Veränderung der Märkte und Wettbewerbsstrukturen, in deren Folge der deutschen Automobilindustrie erheblicher Bedeutungsverlust droht,

…die Transformation der Arbeit durch individuellen, gesellschaftlichen und industriellen Wandel.

Je nach persönlicher oder institutioneller Perspektive werden diese Herausforderungen oft unterschiedlich gewichtet oder sogar gegeneinander diskutiert. Doch so wie die wesentlichen gesellschaftlichen Veränderungen – Klimawende, Energiewende, Mobilitätswende – in enger Verbindung stehen, so müssen auch diese Herausforderungen integriert gedacht werden.

Der Handlungsimperativ der Klimaziele

Im Jahr 2018 war der Straßenverkehr für rund ein Viertel aller CO2-Emissionen der EU verantwortlich. Das durch technologische Fortschritte und alternative Mobilitätsangebote realisierbare Einsparpotenzial bleibt jedoch weitgehend ungenutzt. Das System gesellschaftlicher Mobilität mit all seinen Stakeholdern zeigt sich bislang überwiegend veränderungsresistent.

Neugestaltung der Wertschöpfung und Umbau von Kompetenz- und Organisationsstrukturen

Die Grundlagen der Wirtschaft verändern sich heute so dramatisch wie zuletzt bei der Durchsetzung industrieller Massenproduktion vor 150 Jahren. Die gebündelten Transformationsprozesse schaffen eine Daten- und Informationsökonomie, die völlig neue, datenbasierte Produktionsweisen ermöglicht.

Das hardwareorientierte Kompetenzportfolio der deutschen Wirtschaft wird grundsätzlich herausgefordert: Software wird vom Hilfsmodul zum Kern der Wertschöpfung; digitale Geschäftsmodelle werden bestimmende Führungsgröße. Parallel befeuern neue Wettbewerber und neue Kundenbedürfnisse einen Kampf um die Lufthoheit in der gesellschaftlichen Mobilität.

Wer in diesem sich entwickelnden Ökosystem Enabler, Betreiber, Profiteur oder nur Zulieferer einer neuen Mobilität wird, ist noch nicht entschieden. Es ist an den Automobilherstellern, diese Frage zu beantworten und ihr Potenzial zu erkennen.

Neue Kompetenzen und Querverbindungen werden möglich und nötig

Es ist an der Automobilindustrie, zu beweisen, dass sie den Umbau der gesellschaftlichen Mobilität als zentraler Akteur gestalten kann. Dafür jedoch muss sie sich neu erfinden. Sie muss Kompetenzen für digitale Geschäftsmodelle sowie für Software und Daten in den Vordergrund stellen und ihre Rolle als integraler Teil deutscher Wirtschaft und Gesellschaft neu definieren.

Anschaulich wird dies bei der Umsetzung der Elektromobilität, die die Beziehung von Automobilindustrie und Energiewirtschaft neu definiert: Das Fahrzeug wird als dynamischer Speicher ein Baustein der Energiewende. Rund um Ladelösungen sowie lokale Energieerzeugung, -speicherung und -verwaltung entsteht bereits ein hochwertiges Wertschöpfungsökosystem. Eine Industrie, die im Elektromotor nur ein Hardware-Update zur Emissionsreduktion sieht, bleibt dabei außen vor.

Neue Formen von Teilhabe, Mitbestimmung und Kompetenzentwicklung

Zur Realität des mobilistischen Wandels gehören weit über die konkrete Automobilherstellung gehende gesellschaftliche Transformationsprozesse, vordergründig die Transformation der Arbeit. Sie verändert Mobilitätsbedarfe auf Anwenderseite, betrifft aber auch Hersteller und Mobilitätsanbieter als Arbeitgeber. Neue Arbeitsformen und agile Führungs- und Projektkonzepte schaffen weitreichende Potenziale zur Ausweitung betrieblicher Teilhabe und Mitbestimmung.

Entscheidend für den erfolgreichen Wandel der Industrie sind das Lernverhalten des Leadership-Teams und des mittleren Managements, Investitionen in demokratische Qualifizierungskonzepte sowie der Aufbau unternehmensinterner und -übergreifender Job-Märkte. Zielorientierte betriebliche Mitbestimmung ist ein fundamentaler Garant für den Erfolg der Transformation.

Dies gilt umso mehr, da die Transformation der Industrie auch die Transformation der von ihr abgefragten Fähigkeiten bedingt. Schnell stellen sich hier Fragen der beruflichen Weiterbildung und der Erwachsenenbildung, die von den aktuellen Angebots- und Anreizsystemen unzureichend beantwortet werden.

Das Betriebsmodell gesellschaftlicher Mobilität muss überarbeitet werden

Der Umbau dieses vielseitig herausgeforderten Systems kann nur als gesamtgesellschaftliches Zukunftsprojekt im Rahmen eines ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltigen Wertesystems gelingen, das alte und neue Bedürfnisse von Mensch und Gesellschaft anerkennt und die Menschen adäquat beteiligt.

Dabei geht es um mehr als die Diskussion darum, ob die in ihrem Kern bereits 1886 von Carl Benz formulierte Antwort auf die Frage individueller Mobilität heute noch Gültigkeit hat. Die Mobilität der Gesellschaft muss als Summe ihrer Stakeholder und derer Motivationen und Interessen verstanden, analysiert und verändert werden.

3. Wer wir sind und was uns verbindet

Wir sind ein Teil der Mobilitätsindustrie – erfahren, informiert, veränderungsbewusst, umbruchbereit.

Die Mitglieder der Expert*innengruppe Paradigmenwechsel befassen sich seit Jahren mit dem Wandel der Mobilität. Wir bringen Erfahrung aus Management, Beratung, Wissenschaft und Gewerkschaften zusammen und sind mit den Strukturen und Prozessen der Automobilwirtschaft und der gesellschaftlichen Mobilität eng vertraut.

Wir sind überzeugt davon, dass

  • die Einhaltung der Pariser Klimaziele den grundlegenden Umbau gesellschaftlicher Mobilität voraussetzt,
  • Anforderungen hinsichtlich Ressourcenverbrauch, Emissionen und Recycling einen zwingenden, aber auch konstruktiv wirkenden Rahmen bilden,
  • die Informationsökonomie, geprägt durch neue Geschäftsmodelle und den weltweit in Echtzeit verfügbaren Informationsraum, den Umbau der gesellschaftlichen Mobilität treibt,
  • Innovationen und neue Technologien den Handlungsraum erweitern,
  • die damit verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten große Chancen auf neue, nachhaltige Lösungen bieten,
  • die neue Mobilität der Gesellschaft nur gelingt, wenn wir einen Paradigmenwechsel vollziehen und den Transformationsprozess bewusst gestalten,
  • die deutsche Automobilindustrie nur dann überlebt, wenn sie diesem Paradigmenwechsel folgt, ihre Rolle neu definiert und die Transformation treibt und gestaltet.

4. Was Wirtschaft und Gesellschaft gewinnen und was wir anbieten

Von allen, mit allen, für alle und die Zukunft.

Wir betrachten es als eine zentrale Aufgabe, den Nutzen und die Nutzung von sowie die Freude an der Mobilität neu zu denken und damit einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung der oben skizzierten Herausforderungen zu leisten. Unsere Lösungsansätze sind in unseren Augen wesentliche Schritte zur Sicherung der Zukunft der Industrie, des Wirtschaftsraumes, der Gesellschaft und des Planeten.

Konkret bieten wir den Akteuren der Mobilitätsindustrie Unterstützung durch fachlichen Austausch, zielgruppenspezifische Beratung und branchenübergreifende Vernetzung. So stehen wir einer Gesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, die auf die nachhaltige Zukunft von Mobilität und Mobilitätsindustrie Einfluss nehmen möchte, als Partner und Impulsgeber zur Seite.

Als Netzwerk Paradigmenwechsel Mobilität wollen wir nachhaltig handeln und verändern, indem wir die Menschen mitnehmen und ihnen Lust auf eine Zukunft der intermodalen Mobilität machen, die sie selbst mitgestalten. Industrie und Politik haben die Möglichkeit, dieser Veränderung ein starker Partner zu sein. Dafür gilt es, gemeinsam und mit neuem Denken in den Gestaltungsmodus zu kommen. Gehen wir voran!